Inflationsrisiken und negative Realzinsen werden von vielen Anlageberatern und Banken ignoriert. Das ist aus ihrer Sicht verständlich. Aus der Perspektive langfristig orientierter Anleger ist es aber fahrlässig.
Angenommen, Sie besitzen ein Vermögen von 1 Million Franken und möchten dieses im Hinblick auf Ihre Pensionierung, sagen wir in zwanzig Jahren, möglichst sicher anlegen: Wären Sie dann zufrieden, wenn Sie in zwanzig Jahren zwar immer noch 1 Million Franken besitzen, für dieses Geld aber nur noch halb soviel wie heute kaufen können, weil sich das Preisniveau inzwischen verdoppelt hat?
Natürlich nicht. Entscheidend für Ihren Wohlstand ist die Kaufkraft des Vermögens. Doch viele Banken und Anlageberater denken anders. Sicherheit setzen sie mit nominaler Werterhaltung gleich. Die Kaufkraft des Geldes spielt in ihrer Beratung oft keine Rolle.
Dies kommt etwa im Anlagevorschlag eines Bankberaters zuhanden einer Bekannten von mir deutlich zum Ausdruck. Bei einem klar deklarierten Zeithorizont von 10-15 Jahren, relativ grosser Risikofähigkeit, aber eher tiefer Risikobereitschaft erhielt sie folgende Empfehlung:
- Cash (Sparkonto): 21%
- Obligationen: 61%
- Genossenschaftsanteile: 4%
- Aktien: 10%
- Immobilien: 4%
Gemäss dieser Empfehlung wären 86% des Vermögens (Cash, Obligationen und Genossenschaftsanteile mit mehr oder weniger festverzinslichem Charakter) direkt der Teuerung ausgesetzt: Übersteigt die Inflationsrate den Zinsertrag, resultiert ein Kaufkraftverlust.
Über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren ist das kein vernachlässigbares Risiko, sondern ein Klumpenrisiko sondergleichen. In England erlitten Anleger, die ihr Geld auf dem Konto halten, seit 2008 kumulierte Kaufkraftverluste von ca. 15%. Auch im Euro-Raum, in den USA und in der Schweiz sind die Zinsen unter die Inflationsraten gefallen. Ein Ende der negativen Realzinsen ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Es existiert ein beträchtliches Risiko, dass die Inflation in den nächsten Jahren bei anhaltend tiefen Zinsen steigt. Die wichtigsten Notenbanken arbeiten mehr oder weniger explizit auf dieses Ziel hin. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die expansive Geldpolitik eines Tages zu Inflationsraten führt, die deutlich über den von den Zentralbanken angestrebten Werten liegen. Die Preisentwicklung reagiert zeitlich verzögert und in kaum berechenbarer Intensität auf die aktuelle Geldpolitik. Auch die ausserordentlich hohe und nach wie vor steigende Verschuldung der meisten Industrienationen weist in diese Richtung, sind doch negative Realzinsen für die Politik eine bequeme Alternative zu unpopulären Sparmassnahmen oder Steuererhöhungen.
Der gemachte Vorschlag birgt aus all diesen Gründen ein erhebliches Risiko starker Kaufkraftverluste. Doch lässt sich dieses Risiko überhaupt reduzieren? Wäre ein grösserer Anteil in Aktien nicht noch riskanter?
Die Antwort lautet nein, aus zwei Gründen. Erstens erzielen Aktien im langfristigen Durchschnitt höhere Renditen als Cash und Obligationen. Das mindert inflationsbedingte Verluste. Zweitens sind Unternehmen reale und keine nominalen Werte. Sie sind nicht direkt der Inflation ausgesetzt. Steigen Preise und Löhne, hat das nicht nur höhere Produktionskosten zur Folge; auch die Preise der verkauften Produkte und damit die Erträge steigen in der Tendenz.
Entscheidend für das Gesamtrisiko eines Portfolios ist der richtige Mix der Anlagen, also eine gute Diversifikation. Während Aktien und Immobilien über einen längeren Zeithorizont das Risiko inflationsbedingter Kaufkraftverluste mindern, schützen Cash und Obligationen besser gegen eine Abschwächung der Wirtschaftsleistung. Letztere ist meistens konjunkturell bedingt und damit zeitlich begrenzt. Das Inflationsrisiko nimmt mit dem Zeithorizont jedoch zu. Langfristig orientierte Anleger sollten deshalb einen beträchtlichen Anteil des Vermögens in Aktien halten, auch wenn sie risikoscheu sind.
Die optimale Gewichtung der einzelnen Anlagen ist keine exakte Wissenschaft, sie hängt von verschiedenen Faktoren ab und ist mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Für einen Zeithorizont von mehr als 10 Jahren kann man dennoch sagen, dass ein Portfolioanteil von gegen 50% Aktien und Immobilien sicherer ist, als die empfohlenen 14%. Dies lässt sich schon mit der Tatsache begründen, dass es in den letzten gut hundert Jahren nur ganz wenige Perioden gab, in denen ein global diversifiziertes Aktienportfolio über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren reale Verluste einbrachte. Nominale Anlagen erlitten sogar in den stabilsten Währungen CHF, USD und GBP sowohl während des ersten Weltkriegs, nach dem zweiten Weltkrieg und in den 70er Jahren massive Kaufkraftverluste.
Entwicklung der Kaufkraft von Geldmarktanlagen in Perioden negativer Realzinsen. Im letzten Jahrhundert gab es drei Phasen mit negativen Realzinsen und massiven Kaufkraftverlusten von Bankguthaben, Obligationen und anderen nominalen Geldanlagen. (Quellen: SNB, Federal Reserve Bank of St.Louis, Bank of England)
Seit der Finanzkrise 2008 sind die wichtigsten Währungen erneut in den Bereich negativer Realzinsen getaucht. Niemand kann heute zuverlässig abschätzen, wie lange diese Phase dauert und wie gross die Kaufkraftverluste am Ende sein werden. Diese Entwicklung einfach zu ignorieren, wie dies viele Anlageberater und Banken immer noch tun, ist aus der Perspektive des Anlegers fahrlässig.
Aus Sicht der Bank sieht es anders aus: Je grösser der Aktienanteil, desto grösser das Potential für kurzfristige Verluste. Diese sind gegenüber Kunden, Medien, Behörden und Gerichten nicht einfach zu erklären und können im schlimmsten Fall zu Reputationsschäden oder Schadenersatzforderungen führen. Anlageberater befinden sich damit in einer Konfliktsituation. Ihnen ist es oft gar nicht möglich, ausschliesslich im langfristigen Interesse ihrer Kunden zu handeln. Als Anleger sollten Sie sich dessen bewusst sein.