Szenarienanalysen sind ein wertvolles Werkzeug des Risikomanagements: Sofern man ihre Grenzen beachtet und sie sinnvoll verwendet. Sonst mutieren sie zu irreführendem Humbug und Alchemie.
„Was wäre, wenn?“ fragt die UBS und fordert Anleger dazu auf, die Robustheit ihrer Portfolios anhand fünf historischer Szenarien zu prüfen: 9/11, Finanzkrise 2008, Krim-Krise 2014, Frankenschock 2015, Brexit-Abstimmung 2016. Die Stresstests sollen vor dem Fehler schützen, das Unerwartete zu ignorieren und die Dynamik der Finanzmärkte zu unterschätzten. So weit so gut.
Szenarienanalysen sind bei Banken und Vermögensverwaltern en vogue. Auch Prognosen werden vermehrt durch alternative Entwicklungsmöglichkeiten – meist mit Wahrscheinlichkeitsangaben – ersetzt. Das wirkt wissenschaftlich und hat einen gewichtigen Vorteil: Szenarien mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllen den Zweck der klassischen Prognose und haben gleichzeitig die angenehme Eigenschaft, nie falsch zu sein. Denn Wahrscheinlichten lassen sich im Unterschied zu eindeutigen Vorhersagen auch im Nachhinein nicht falsifizieren.
Was ist von Szenarienanalysen zu halten? Richtig angewandt, sind sie zweifellos ein wertvolles Werkzeug des Risikomanagements. Sie helfen, die Auswirkungen unerwarteter, aber doch denkbarer Ereignisse auf eine bestimmte Anlagestrategie zu eruieren, Portfolios robuster zu gestalten und die negativen Konsequenzen falscher Einschätzungen zu reduzieren. In der Praxis wird die Technik allerdings oft unzulänglich und stümperhaft angewandt, die natürlichen Grenzen der Methode werden missachtet. Das führt leicht zu Fehleinschätzungen und Fehlentscheiden.
Begrenzte Vorstellungskraft
Wir können nur Szenarien analysieren, die wir denken können. Die Realität wartet aber sporadisch mit Ereignissen auf, die sich unserer Vorstellungskraft bis dahin entzogen. Welche Pensionskasse hatte die Auswirkungen negativer Nominalzinsen vor ihrem Auftreten analysiert? Welche Bank hatte die Dynamik der Finanzkrise 2008 auch nur entfernt erahnt? Wer hatte vor wenigen Monaten die Möglichkeit eines weltweiten Lockdowns in Erwägung gezogen? Und doch nehmen viele Analysten implizit in Anspruch, das gesamte Spektrum möglicher Entwicklungen zu überblicken. Das zeigt sich etwa in den angeführten Wahrscheinlichkeiten, die sich meist auf 100% addieren und somit Unvorhergesehenes für unmöglich erklären.
Ähnlich verhält es sich mit „worst-case-Szenarien“. Der worst case ist im Allgemeinen nur das Schlimmste, was der Analyst selber erlebt hat oder im besseren Fall aus einem Geschichtsbuch kennt. Der eingangs erwähnte Stresstest zeigt das exemplarisch. Die verwendeten historischen Szenarien stammen ausschliesslich aus diesem Jahrhundert. Vermutlich ist der Autor noch jung und bekundet an Wirtschaftsgeschichte wenig Interesse. Für Vermögensanlagen schwerwiegende Ereignisse wie hohe Inflation, Währungsreformen oder gehäufte Staatsbankrotte scheinen sich seinem Vorstellungsvermögen gänzlich zu entziehen. Doch „nicht denkbar“ ist kein Synonym für „unwahrscheinlich“ und erst recht nicht für „unmöglich“. Das lehrt die Geschichte hundert- und tausendfach.
Alchemistische Methoden
Die Verwendung von Wahrscheinlichkeiten in Zusammenhang mit seltenen und einmaligen Ereignissen ist an sich schon fragwürdig, weil sich solche Wahrscheinlichkeiten weder messen noch berechnen lassen. Wie kommt ein namhafter Vermögensverwalter wie Schroders dazu, das Risiko einer Eskalation des Handelsstreits zwischen den USA und China mit 8%, einer italienischen Schuldenkrise mit 4% und einer US-Rezession 2020 mit 9% zu beziffern? Dazu fehlt jede Angabe. Ein anderer Ökonom hätte die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten mit ebenso guter Begründung vielleicht auf 20%, 10%, bzw. 60% geschätzt. Solche Zahlen vermitteln nicht mehr als das oft trügerische und kaum fundierte Bauchgefühl ihres Urhebers. Der Hinweis auf eine angeblich geringe Eintrittswahrscheinlichkeit konterkariert geradezu den Sinn eines Szenarios, nämlich mit dem gefühlt Unwahrscheinlichen zu rechnen.
Auch die Risikomanager der Crédit Suisse versuchen, „die künftige Entwicklung wichtiger Wirtschaftsfaktoren mit Wahrscheinlichkeiten zu versehen, also Unsicherheiten in kalkulierbare Risiken zu verwandeln“. Die Verwandlung der Unsicherheit in Wahrscheinlichkeiten ist so abwegig wie die Verwandlung von Wasser in Gold. Mehrfach hat sich die Grossbank mit solch alchemistischen Methoden bis nahe an den Abgrund kalkuliert.
Richtig eingesetzt, können Szenarien helfen, den Horizont zu erweitern, mit unvermeidbarer Unsicherheit verantwortungsvoll umzugehen, Risiken zu erkennen. Der Ausschluss des Unbekannten, das Rechnen mit willkürlichen, nichtssagenden Wahrscheinlichkeiten, die Überhöhung der eigenen Vorstellungskraft bewirken das Gegenteil. Sie verleiten dazu, die Diversifikation zu schwächen und vermeintlich berechenbare Risiken im Übermass zu akzeptieren. Exorbitante und unverhältnismässige Verluste mancher „stressgetesteter“ Portfolios während der Corona-Krise machen klar: Humbug und Alchemie im Risikomanagement sind noch lange nicht ausgerottet.