Zusammenbrechende Rohstoffpreise, sinkende Zinsen und Teuerungsraten nahe Null: Ist die Inflationsgefahr gebannt? Die Geschichte lehrt uns anderes.
„How the Fed Fuels the Coming Inflation“ titelte das Wall Street Journal noch im Mai 2014 einen Beitrag Allan H. Meltzers. Der weltweit beachtete Experte in Sachen Geldpolitik war mit seiner Einschätzung bei weitem nicht allein. Die „unkonventionellen“ Massnahmen der Zentralbanken seit der Finanz- und Schuldenkrise wurden von vielen mit hoher Inflationsgefahr gleichgesetzt.
Doch seither hat sich der Preis für Erdöl und andere Rohstoffe halbiert. Die Inflationsraten tendieren gegen Null oder sind gar negativ. Die von den Notenbanken geschaffene Liquidität wird von Banken, Unternehmen und Privaten grösstenteils gehortet und wurde bisher deshalb nicht inflationswirksam. In den Medien ist Preisstabilität kaum mehr ein Thema. Und auch die langfristigen Inflationserwartungen zahlreicher Akteure sind so tief wie noch nie in der Nachkriegszeit.
Szenarien
Manche Ökonomen folgern daraus, Inflationsrisiken seien auf absehbare Zeit gebannt. Das ist ein voreiliger und für langfristige Anleger gefährlicher Schluss. Denn gute Argumente gibt es für mehrere mögliche Entwicklungen:
- Die überschüssige Liquidität wird durch die Zentralbanken wieder abgeschöpft, bevor sie inflationswirksam wird. Die wichtigsten Staaten bekommen ihre Budgetdefizite dauerhaft unter Kontrolle. Die Geldpolitik normalisiert sich.
- Unternehmen und Private schätzen die wirtschaftliche Entwicklung zunehmend optimistisch ein. Sie nutzen die grossen Liquiditätsreserven und zusätzliche Kredite für Investitionen und Konsum. Diese Nachfrage führt zu einem Anziehen von Konjunktur und Inflationsraten. Aufgrund falscher Einschätzungen, politischem Druck, Angst vor einem Konjunktureinbruch und bedingt durch die zeitlich verzögerte Wirkung geldpolitischer Massnahmen reagieren Zentralbanken zu spät, um einen markanten Anstieg der Inflation zu verhindern.
- Anhaltende Budgetdefizite in Verbindung mit geringem Wirtschaftswachstum schüren die Erwartung, dass die enormen Staatsschulden früher oder später durch die Geldpresse gedeckt werden müssen, weil sie über Steuern nicht mehr finanzierbar sind. Das Vertrauen in die künftige Geldwertstabilität schwindet und die Inflationserwartungen einiger Akteure steigen. Sie beginnen Sachwerte zu kaufen. Andere werden aufmerksam, es kommt allgemein zu rasch steigenden Inflationserwartungen. Viele versuchen ihr Geld loszuwerden, bevor es weniger wert ist. Eine selbstverstärkende Dynamik – vergleichbar mit der Entwicklung bei einem Bank-Run – kommt in Gang. Die Preise vieler Sachgüter steigen plötzlich rasant.
Während die beiden ersten Szenarien breit diskutiert und erörtert wurden, ist letzteres – obschon am gefährlichsten – kaum ein Thema in der Öffentlichkeit.
Eine selbstverstärkende Dynamik der Erwartungen liegt dem plötzlichen Auftreten vieler Krisen zugrunde. Die tieferen Ursachen bauen sich oft über längere Zeit nahezu unbemerkt auf. Sie nagen an der Stabilität des Fundaments. Werden die Probleme dann aufgrund eines kaum prognostizierbaren Ereignisses einer breiteren Schicht bewusst, geht es plötzlich sehr schnell, oft panikartig. Zum Handeln ist es dann zu spät. Man denke beispielsweise an die rasende Abwertung asiatischer Währungen zu Beginn der Asienkrise, an die unvermittelte Liquiditätsverknappung bei vielen Banken während der Finanzkrise, oder an den raschen Vertrauensverlust in die Kreditwürdigkeit der südeuropäischen Staaten 2011.
Erodierende Regelbindung der Geldpolitik
Preisstabilität ist eng mit der Regulierung des Geldmengenwachstums verknüpft. Wie Peter Bernholz zeigt, ist in der Geschichte keine starke Inflation bekannt, der nicht eine über dem Wachstum liegende Geldmengenexpansion voraus gegangen ist. Nie gab es starke Inflation in monetären Regimen mit glaubwürdiger Beschränkung des Geldmengenwachstums. Liege die Beschränkung in der Bindung der Währung an Edelmetalle (Goldstandard) oder an eine andere stabile Währung, oder auch in glaubwürdigen Geldmengen- oder Inflationsziele wie sie viele Zentralbanken seit den 80er Jahre kennen.
Entscheidend ist dabei die Glaubwürdigkeit. Das ist der Grund für die relative Unabhängigkeit vieler Zentralbanken von der Politik, denn Politiker stellen langfristige Geldwertstabilität aufgrund der Wahlzyklen regelmässig hinter kurzfristige Interessen. Sei es die Deckung von Budgetdefiziten ohne Steuererhöhung oder sei es die temporäre Ankurbelung der Konjunktur. Und Glaubwürdigkeit ist ein Grund, warum solche Regeln oft im Gesetz verankert sind.
So gibt der Lissabonner Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union der EZB explizit das vorrangige Ziel der Preisstabilität, was einer Beschränkung des Geldmengenwachstums faktisch gleichkommt. Nun haben EU und EZB aber in zunehmender Kadenz gegen Geist und Buchstaben bindender Verträge verstossen. Erinnert sei an die Aufnahme Italiens und Griechenlands in die Währungsunion trotz faktischer nicht-Erfüllung der Maastrichter Kriterien an Budgetdefizite und Staatsverschuldung, an die wiederholte und sanktionslose Verletzung dieser Richtlinien durch die meisten EU-Staaten, die vertragswidrige Rettung Griechenlands oder an die faktische Finanzierung von südeuropäischen Staatsdefiziten durch die EZB. Wer Regeln verletzt, kann sich schlecht auf diese berufen, wenn der politische Druck grösser wird. Die Gefahr ist gross, dass Zentralbanken wieder zum Spielball kurzfristiger Interessen werden, was die Stabilität der Inflationserwartungen zusätzlich untergräbt.
Historische Erfahrungen
Rasches und unerwartetes Auftreten von starker Inflation ist in der Geschichte nichts Neues.
- Beispielsweise fiel die Inflation in den USA zwischen 1975 und 1977 von 12% auf 5%. Sowohl die Erwartungen der Notenbank, Umfragen, als auch die langfristigen Zinsen liessen weiter sinkende Inflationsraten erwarten. Ähnlich wie heute glaubte das Fed, die monetären Bedingungen ohne Inflationsgefahr lockern zu können, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In nur 3 Jahren stiegen die Teuerungsraten wieder von 5% auf 14.5%.
- Im ersten Weltkrieg hatte sich das Preisniveau in der Schweiz nach massiver kriegsbedingter Staatsverschuldung und der Aufhebung des Goldstandards (Regelbindung) in 4 Jahren mehr als verdoppelt.
- Im 2. Quartal 1933 änderten sich die Inflationserwartungen dramatisch. Dies war politisch gewollt, um die Deflationsspirale zu durchbrechen. Durch eine Reihe gezielter Massnahmen, u.a. der Aufhebung des Goldstandards, erreichte die Administration Roosevelt einen dramatischen Anstieg der Inflationserwartungen. In der Folge schnellten die gemessenen Inflationsraten von -10% im März 1933 innerhalb nur eines Jahres um volle 16% auf +6%.
Versuche zur Beeinflussung der Inflationserwartungen existieren auch heute. So sprachen sich prominente Vertreter des IMF und wichtiger Zentralbanken wiederholt für eine (temporäre) Erhöhung der Inflationsziele aus. Japan hat die Inflationsziele bereits erhöht und nimmt dabei explizit auf die Erfahrungen unter Roosevelt Bezug. In Anlehnung an Goethes Zauberlehrling bleibt zu hoffen, dass sich die gerufenen Inflationserwartungen nicht wie die Besen selbst vermehren.