Inflationsgefahr ist für viele Anleger und Vermögensverwalter kein ernsthaftes Thema mehr. Das ist ein Fehler.
Kaum etwas bedroht den Wohlstand und das Vermögen der Leute stärker als Inflation. Wer kürzlich etwa in Ägypten oder Argentinien war, wo die Preise jährlich um mehr als 20% steigen, weiss das gut. Schon eine Inflation von „nur“ 3.5% führt aufgrund des Zinseszinseffekts innert zwanzig Jahren zur Halbierung eines Vermögens.
In unseren Breitengraden haben das viele vergessen. Das ist verständlich. Seit bald 40 Jahren unterliegen die Inflationsraten einem sinkenden Trend. Seit der Finanzkrise 2008 dümpelt die gemessene Teuerung in den meisten Ländern unter 2%. Der von vielen Ökonomen aufgrund der aggressiven Geldpolitik erwartete Preisschub ist bis heute ausgegblieben. In der Schweiz wurden in den letzten Jahren gar negative Teuerungsraten verzeichnet. Die aktuellen Vorhersagen der meisten Banken und Prognoseinstitute weisen auch in absehbarer Zukunft auf keine wesentlichen Inflationsrisiken hin.
Viele Vermögensverwalter und Anleger betrachten Preisstabilität mittlerweile als eine Selbstverständlichkeit. Eine potentielle Geldentwertung spielt in ihren Überlegungen zur Anlagestrategie keine Rolle mehr.
Das ist ein Fehler. Die aktuellen mehrjährigen Inflationsprognosen könnten sich als so unzutreffend erweisen wie viele Prognosen zuvor. Ernst zu nehmende Argumente legen nahe, dass die Preise eines Tages – niemand weiss wann – unerwartet und rasch anziehen könnten. Darüber hinaus gibt es starke Indizien, dass die tatsächliche Teuerung schon heute deutlich über den publizierten Zahlen liegt.
Angesichts der überragenden Bedeutung der Inflation für Anleger mit langem Zeithorizont, gehen wir diesem Thema während der nächsten Monate in einer Beitragsserie näher auf den Grund.
Inflation ist schwer messbar
Aber was ist eigentlich Inflation? Und wie misst man sie? Damit beschäftigen wir uns heute.
Wikipedia definiert den Begriff als eine „allgemeine und anhaltende Erhöhung des Preisniveaus von Gütern und Dienstleistungen“. Wir haben es also nicht mit einer einmaligen Erhöhung einiger Preise, sondern mit einer andauernden Erosion der Kaufkraft des Geldes zu tun.
Das gängigste Mass für die Inflation sind sogenannte Konsumentenpreisindices, in der Schweiz der „Landesindex der Konsumentenpreise“. Dieser will die durchschnittliche Preisentwicklung der von einem durchschnittlichen Haushalt konsumierten Güter und Dienstleistungen abbilden. Dazu wird vom Bundesamt für Statistik ein Warenkorb definiert, der eine möglichst repräsentative Auswahl der von privaten Haushalten konsumierten Gütern und Dienstleistungen enthält. Der Index widerspiegelt dann die Preisentwicklung dieses Korbs.
So einfach das tönt: Die Messung der Inflation ist aus mehreren Gründen schwierig und ungenau.
Zunächst ändern sich die Konsumgewohnheiten mit der Zeit und mit zunehmendem Wohlstand. Absorbierten Grundnahrungsmittel vor 50 Jahren noch einen beträchtlichen Teil eines typischen Haushaltsbudgets, spielen heute Mobilität und Reisen, Luxusgüter oder Gesundheitspflege eine stärkere Rolle. Die Zusammensetzung des Warenkorbs muss deshalb laufend angepasst werden. Über längere Zeiträume lassen sich die Preise der Körbe somit nur noch sehr bedingt miteinander vergleichen.
Aber nicht nur die Gewichtung der Warengruppen ändert sich, auch die einzelnen Güter und Dienstleistungen an sich unterliegen dem Wandel. So hat ein multifunktionales Smartphone nur noch am Rande mit dem klassischen Telefon zu tun. Autos werden immer sicherer, intelligenter, bequemer.
Dazu kommt, dass für Sie als Konsument nicht die durchschnittliche Teuerung massgebend ist, sondern die Preisentwicklung der von Ihnen nachgefragten Waren. Diese kann unter Umständen merklich höher ausfallen. Wie divergent sich die Preise unterschiedlicher Waren entwickeln, zeigt die folgende Grafik anhand ausgewählter Beispiele.
Für einen starken Raucher war die gefühlte Inflation klar höher als für einen Abstinenzler, um nur den offenkundigsten Fall zu nennen.
Die Inflation ist höher als ausgewiesen
Die genannten Problemkreise zeigen, wie schwierig die Inflation schon auf einer theoretischen Ebene zu erfassen ist, namentlich über einen längeren Zeitraum hinweg. Für Sie als Anleger und Konsument aber mindestens so bedeutend sind Komplikationen und Pferdefüsse in der praktischen und konkreten Anwendung des Konzepts, welche mutmasslich zu einer systematischen Unterschätzung der Geldentwertung führen.
Die Rede ist etwa vom weitgehenden Ausschluss wichtiger, preistreibender Bereiche wie Bildung und Unterricht aus dem Warenkorb. Oder von der Nichtberücksichtigung der Ordnungsbussen, welche sich in nur zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt haben und für den durchschnittlichen Automobilisten wesentlich zur Verteuerung der Mobilität beitragen. Die Rede ist auch von gesetzlich eingeschränkter Preisflexibilität in wichtigen Märkten, etwa Mietwohnungen, was mit einem Nachfrageüberhang einhergeht: Lange Warteschlangen bei Wohnungsbesichtigungen sind eine Form der Inflation. Einige namhafte Ökonomen schätzen, dass die publizierten Inflationsraten aufgrund all dieser und weiterer Verzerrungen um bis zu 4% unter der tatsächlichen Teuerung liegen. Lesen Sie darüber im nächsten Beitrag.