Dass andere Akteure irrational agieren, denken wir häufig. Etwa in der Politik oder an den Finanzmärkten. Das ist menschlich, aber nicht rational.
Seit Trumps Zollankündigungen am 2. April hat das Wort „irrational“ wieder einmal Hochkonjunktur. „Trumps irrationaler Zollkrieg“ titelt etwa die liberale NZZ. „Die größte Schwäche der Regierung Trump II ist ihre Irrationalität“, erklärt der progressive Spiegel. Von Trump’s „irrational policy“ spricht die konservative Denkfabrik Hoover Institution. Trump sei „völlig durchgeknallt“, lärmt noch etwas derber die Welt. Von links bis rechts sind sich die meisten Analysten und Kommentatoren einig: Trump hat seinen Verstand verloren, wenn er denn je einen hatte.
Auch ich kam unwillkürlich zur Einsicht, Trump handle gegen jede Vernunft, als er allen wichtigen Ländern wie aus dem Nichts absurd hohe, auf abstrusen Berechnungen beruhende Zölle auferlegte; und damit grosse Unsicherheit, realwirtschaftliche Probleme, politische Spannungen und erhebliche Wertverluste an den Finanzmärkten provozierte. Das konnte ich schlicht nicht verstehen. Und wie die meisten von uns neige ich dazu, Handlungen, deren Logik sich mir entzieht, rasch und entschieden als irrational abzutun. Das ist menschlich, weil bequem. Die einfache und naheliegende Erklärung befreit von weiterer, anstrengender Denkarbeit. Zudem: Nur wer selbst vernünftig denkt, ist in der Lage, Irrationalität bei andern zu diagnostizieren. Das gibt ein gutes Gefühl.
Doch Akteuren, deren Tun wir nicht nachvollziehen können, Irrationalität zu unterstellen, ist weder klug noch rational. Natürlich ist es möglich, dass Trump tatsächlich irrational, also gegen seine eigenen Interessen agiert. Doch unser Unverständnis für seine Aktionen kann auch eine andere Ursache haben: Unser eigenes Unvermögen, die Dinge richtig zu deuten. Wir können von falschen Tatsachen und Annahmen ausgehen, wesentliche Zusammenhänge übersehen, die Motive des amerikanischen Präsidenten missdeuten. Dann werden wir anfällig für Fehlprogosen und Fehlentscheide. Vorgänge, die wir nicht verstehen, leichtfertig mit der Unvernunft anderer zu erklären, schadet uns selbst.
Viel zweckmässiger ist ein Denkansatz wie ihn etwa Christoph Blocher in einem kurzen Artikel verfolgt, wobei der politische Standpunkt des Autors hier keine Rolle spielt. Statt mit den Wölfen zu heulen, stellt er Fragen und sucht gezielt nach Beweggründen, die Trumps Vorgehen rational erklären können. Ein mögliches Motiv für die – in diesem Ausmass – völlig unerwartete Zollaktion könnte in wahltaktischen Überlegungen liegen. Und der genaue Zeitpunkt der Zollankündigung zu Beginn des zweiten Quartals könnte als Indiz gedeutet werden, dass die amerikanische Regierung den Schein des chaotisch impulsiven Handelns nur erwecken will, in Wahrheit aber gut geplant und überlegt vorgeht.
Ob man diese Interpretationen nun für plausibel hält oder nicht, ist nebensächlich. Entscheidend ist der Ansatz: Fragen zu stellen, statt vorschnell und selbstgerecht zu urteilen. Sind die Dinge wirklich so, wie sie scheinen? Übersehe ich womöglich entscheidende Aspekte? Werde ich sogar bewusst in die Irre geführt? Wer solche Fragen gezielt und systematisch stellt, lässt sich weniger leicht täuschen, schützt sich selbst vor Fehlentscheiden aufgrund falscher Annahmen.
Das gilt nicht nur für die Politik, sondern genauso für die Börse. Wie oft hören wir doch von Experten, die Märkte seien „irrational“. Womit sie im Klartext meinen: „Andere Marktteilnehmer beurteilen die Situation völlig falsch, erkennen das Offensichtliche nicht, ich dagegen sehe klar“. Nun, die weitere Entwicklung zeigt dann ziemlich regelmässig das exakte Gegenteil: Die „Märkte“ sehen oder wissen Dinge, die dem Experten noch verborgen sind. Wer etwa im Frühjahr 2001 Swissairpapiere zu „irrationalen“ Schleuderpreisen erstand, wer im Herbst 2007 Aktien der UBS zu „irrational“ tiefen Kursen erwarb, wer 2022 massiv in Crédit Suisse Titel „weit unter ihrem inneren Wert“ investierte, der musste an seinen riesigen Verlusten alsbald erkennen, dass nicht der „Markt“, sondern die eigenen vorschnellen Schlüsse irrational waren. Und das sind keine Einzelfälle, das ist die zuverlässige Regel.