Wer nachhaltig investieren will, muss sich seiner Unmündigkeit entledigen. Sonst wird er zum Spielball mächtiger Interessen und zum Sklaven des Zeitgeists.
„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, schrieb Immanuel Kant in einem berühmten Aufsatz. Er fuhr fort: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“
„Unmündiges Hausvieh“ nannte Kant die so bequemen Leute, die das Denken lieber anderen überlassen. Er meinte damit auch jene modernen Anleger, die glauben, ihre Verantwortung gegenüber der Natur und gegenüber der Gesellschaft mit dem Kauf „nachhaltiger“ Finanzprodukte an Vermögensverwalter (und ihre vorgesetzten Regulierungsbehörden) übertragen zu können. An Vormünder, welche das „ethische“, „nachhaltige“, „verantwortungsvolle“ Investieren für ihr Hausvieh gütigst auf sich nehmen. Natürlich gegen ein schönes Entgelt. Es ist so bequem, ein unmündiger, verantwortungsvoller Anleger zu sein. Ohne sich bemühen und anstrengen zu müssen, erhält man ein reines Gewissen.
„Nachhaltig“, „ethisch“ und „verantwortungsvoll“ sind im Kontext von Finanzanlagen keine fassbaren Begriffe. Im Gegensatz zu Wörtern wie „Rendite“ oder „Risiko“ haben sie keine klare Bedeutung. „Nachhaltig“ ist ein Wort mit fluidem Inhalt, ein Begriff, der vom einen so, vom andern ganz anders gedeutet wird. Ein Begriff, der heute dies und morgen das Gegenteil bezeichnen kann. Was die Leithammel der „Nachhaltigkeit“ dem unmündigen Anleger noch gestern als nachhaltig verkauften, verschreien sie heute als verwerflich. Und was sie heute als ethisch preisen, betrachten sie vielleicht schon morgen als böse. Und die Vormünder in der nachhaltigen Finanzindustrie setzen die sich ändernden Interpretationen mit dem Geld ihres Hausviehs bereitwillig um. Gegen gute Bezahlung.
Erinnern wir uns. Galt nicht vor wenigen Jahren der Naturschutz als wichtiger Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung? Die „Verbetonierung“ der Landschaft, die Zersiedelung wurden vehement bekämpft. Heute fordern die Apostel der Nachhaltigkeit die Einbetonierung tausender Windräder und flächendeckender Solaranlagen.
Erinnern wir uns. Die meisten „ethischen“ Anlagefonds schlossen Investitionen in Atomkraft und fossile Energie bis vor kurzem kategorisch aus. Denn das entsprach dem dominierenden Verständnis von Nachhaltigkeit. Das ändert sich dieser Tage radikal. Denn einflussreiche Vormünder haben aus schädlichem Erdgas und bedrohlicher Atomkraft – abakadabra – grüne, nachhaltige Energie gemacht. Womit viele unmündige, verantwortungsbewusste Anleger von überzeugten Kernkraftgegnern – schwuppdibup – bald zu stolzen Besitzern von Atomkraftwerken mutieren dürften.
Erinnern wir uns. Vor Februar 2022 galt die Waffenproduktion für zahlreiche „nachhaltige“ Anlagefonds als Paradebeispiel nicht nachhaltigen Wirtschaftens. Auch wenn es etwa in Osteuropa viele Leute nie als besonders nachhaltig empfanden, die Herstellung von Waffen Russland zu überlassen. Diese Einsicht reift jetzt auch bei Vermögensverwaltern, die sich der „Nachhaltigkeit“ verpflichtet fühlen. Werden „verantwortungsvolle“ Fonds vielleicht schon bald völkerrechtlich geächtete Streubomben finanzieren? Ausgeschlossen ist das nicht.
Erinnern wir uns. Dieselautos galten dank niedrigem Treibstoffverbrauch noch vor wenigen Jahren als fortschrittlich und verhältnismässig umweltfreundlich. Jetzt verbietet man sie. Elektromobile werden zum Inbegriff der Nachhaltigkeit erklärt. Die mit Batterien verbundenen Umweltschäden werden vorläufig ausgeklammert. Wie lange? Und was tritt an die Stelle der nachhaltigen Solarzellen, wenn sich diese im Urteil der Vormünder eines Tages unvermittelt in toxisches Teufelswerk verwandeln?
Ganz gleich, wie ein Anleger zu all diesen Dingen im Einzelnen steht: Wer mit Vermögensanlagen mehr als eine vernünftige Rendite bei möglichst geringem Risiko will, wer glaubt, bestimmte Unternehmen aus moralischen Gründen nicht finanzieren zu dürfen, wer unternehmerische Entscheide aus Verantwortungsbewusstsein nicht länger den verantwortlichen Unternehmern und Managern überlassen will, kommt nicht umhin, sich anzustrengen und selber zu denken.
Wer „nachhaltiges“ Anlegen unbesehen einem Verwalter überträgt, delegiert seine Überzeugungen an einen Vormund, er entlässt seine Urteilskraft. Er begibt sich selbstverschuldet in die Unmündigkeit. Er macht sich zum Spielball einflussreicher Interessen, zum Sklaven des unbeständigen Zeitgeists. Er handelt verantwortungslos. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist der Wahlspruch der Aufklärung und des verantwortungsbewussten Anlegers.
Das bedeutet nicht, dass ein Anleger jedes Unternehmen selber beurteilen muss. Doch er muss sich einen Vermögensverwalter suchen, dessen Verständnis der Nachhaltigkeit keine fluide, interessen- und zeitgeistgeleitete Masse ist, sondern ein fassbares Konzept, das mit seinen persönlichen Überlegungen übereinstimmt. Anbieter mit klaren Vorstellungen nennen ihre Produkte meist nicht „nachhaltig“, „ethisch“ oder „verantwortungsvoll“. Sie arbeiten mit fassbaren Begriffen wie „Energie-Effizienz“, „Tierschutz“ oder „sauberes Wasser“. Und sie konzentrieren sich auf wenige Ziele. Anlagefonds, die viele ökologische, soziale und ethische Ziele gleichzeitig verfolgen, verheddern sich in inneren Widersprüchen und Zielkonflikten und werden am Ende weniger als nichts erreichen. Erst recht nicht, wenn sich ihre Ziele nicht aufgrund neuer Erkenntnisse, sondern mit politischen Machtverhältnissen und zeitgeistigen Strömungen ändern.