Viele private und institutionelle Anleger kaufen Obligationen trotz negativen Renditen und verlieren entsprechend Geld. Sind sie verrückt?
Niemand verleiht Geld, wenn er dafür bezahlen muss. Lieber legt er die Scheine unter die Matratze. Das zumindest nahmen bis vor einigen Jahren fast alle Ökonomen und Finanzexperten an. Negative Zinsen waren für sie undenkbar.
Ein Irrtum
Die Annahme erwies sich als falsch. Als wäre es das Normalste der Welt, kaufen heute Versicherungen, Pensionskassen, Anlagefonds und Private Obligationen mit leicht negativen Renditen von bis zu ca. -1%. Auch auf ihren Bankeinlagen akzeptieren sie immer häufiger Belastungen statt Zinsgutschriften. Sind sie alle verrückt?
Vermutlich nicht. Sie haben einfach gemerkt, dass auch das Horten von Bargeld nicht gratis ist. Grössere Bezüge sind bei manchen Banken umständlich und kostenpflichtig geworden. Auch Diebe wissen, was unter Matratzen zu finden ist. Tresore gibt es nicht umsonst. Regulatorische Auflagen erschweren oder verbieten das Halten von Bargeld für viele Akteure. Auch ist es nicht mehr einfach, grössere Mengen an Banknoten wieder loszuwerden. Rasch ist man dem Verdacht der Geldwäscherei ausgesetzt.
Aus all diesen Gründen nehmen Anleger heute lieber leicht negative Renditen als die Nachteile von Bargeld in Kauf. Natürlich gibt es Grenzen. Wären die Zinsen zum Beispiel bei minus 5% p.a., würden die meisten trotz der Nachteile auf Bargeld ausweichen. Zur Umgehung regulatorischer Hürden würden dann wohl Wege gesucht und gefunden.
Noch ein Irrtum?
Niemand verleiht Geld, wenn die Verzinsung stark negativ ist, glauben deshalb die meisten Experten heute. Stark negative Zinsen sind für sie undenkbar.
Aber auch diese Annahme könnte sich als falsch erweisen. Um die Einführung stark negativer Zinsen zu ermöglichen, gibt es nämlich Vorschläge und Bestrebungen, die Haltung von Bargeld stark zu erschweren, verteuern oder ganz zu verbieten.
Dafür weibelt etwa der Star-Ökonom Rogoff. Dass ihm die Schweizerische Nationalbank eine Bühne bietet, weist darauf hin, dass solche Ideen von den Zentralbanken ernst genommen werden. Einen Schritt weiter geht der Internationale Währungsfonds. Er publiziert nicht nur konkrete Vorschläge für die Verteuerung der Bargeldhaltung, sondern auch einen Kommunikationsplan mit dem Ziel, die Akzeptanz stark negativer Zinsen beim Publikum zu erhöhen.
Wo sich Politiker einig sind
Von der Politik ist kaum harter Widerstand gegen noch tiefere Zinsen zu erwarten. Denn Politiker unterschiedlichster Couleur sind sich dies und jenseits des Atlantiks in einem Punkt zunehmend einig: Die Wirtschaft (mit Schwerpunkt bei der eigenen Klientel) ist bei jedem Einbruch mit immer höheren Beträgen zu „stimulieren“. Und als „systemrelevant“ identifizierte Betriebe (je nach Klientel etwa Banken, Kultur-, oder Handwerksbetriebe) sind vom Staat zu stützen. Und zwar schuldenfinanziert. Negative Zinsen kommen da gerade recht, machen sie doch Schulden scheinbar erst noch lukrativ. Über die längerfristigen Kosten und Risiken hoher Schulden und negativer Zinsen machen sich immer weniger Politiker Gedanken.
Nicht zwingend verrückt
Ob und wann es tatsächlich zu stark negativen Zinsen kommt, weiss heute niemand. Doch das Risiko besteht, die Tendenzen gehen in diese Richtung. Und das Risiko steigt mit einer Wirtschaftskrise. Cash ist auf längere Zeit keine garantiert wertbeständige Anlage mehr, selbst ohne Inflation. Im Rahmen eines diversifizierten Portfolios machen Obligationen auch heute noch Sinn. Sollten stark negative Zinsen dereinst Realität werden, steigen langlaufende Obligationen mit hoher Kreditqualität in ihrem Wert.
Wer trotz negativer Renditen einen gewissen Teil des Vermögens in Obligationen anlegt, ist nicht zwingend verrückt. Vielleicht schaut er nur weiter voraus und beachtet einen zentralen Grundsatz: Echte Diversifikation.