In den letzten Monaten fuhren die Aktienpreise Achterbahn. Was steckt dahinter?
Sinken oder steigen die Kurse englischer Aktien im Falle eines vertragslosen Brexit? Ein Kollege argumentiert, die entstehenden Turbulenzen würden den Geschäftsgang der Unternehmen deutlich beeinträchtigen. Ich stelle dem die langfristigen Vorteile einer Befreiung von den immer enger werdenden Fesseln der EU-Regulierungsmaschinerie entgegen. Es gibt keine Möglichkeit, im Voraus festzustellen, welches Argument gewichtiger ist.
Aber etwas zeigt die Diskussion schon heute: Die Tatsache, dass sich die Brexit-Frage überhaupt stellt, erzeugt Unsicherheit. Es ist diese Art von Unsicherheit, welche den Schwankungen der Aktienmärkten zugrunde liegt.
Der Preis einer Aktie hängt vor allem von zwei Faktoren ab. Einmal von der Summe der geschätzten, künftigen Unternehmensgewinne, bzw. der daraus ausgeschütteten Dividenden. (Exakter: Von den abgezinsten Dividenden. Denn je früher eine Dividende bezahlt wird, desto wertvoller ist sie, weil sie zinsbringend angelegt werden kann.)
Der zweite Faktor ist die Risikoprämie. Die Schätzung künftiger Unternehmensgewinne ist mit Unsicherheit behaftet. Die meisten Menschen ziehen sichere Zinserträge aus Obligationen den unsicheren Dividenden vor. Für Anlagen in Aktien verlangen sie deshalb eine Risikoprämie. Das heisst, dass der Preis einer Aktie typischerweise tiefer liegt, als die Summe der daraus erwarteten, abgezinsten Erträge. Je höher die Risikoaversion der Investoren, desto grösser wird diese Differenz.
Gewinnerwartungen und Risikoaversion sind nicht unabhängig voneinander. Dass sie zu grosse Risiken eingegangen sind, realisieren Investoren häufig erst, wenn die Börsen fallen. Dann werden sie vorsichtig und verkaufen Aktien, wodurch die Kurse weiter sinken. Verstärkt wird dieser Effekt durch sogenannt dynamische Absicheurungsstrategien. Damit wird etwa der Börsenkrach von 1987 erklärt, als Aktien innerhalb eines Tages durchschnittlich rund 20% an Wert verloren. Viele institutionelle Anleger verfolgten damals die Strategie, ihr Aktienexposure bei fallenden Märkten durch Verkäufe sukzessive abzubauen und so das Verlustpotential zu begrenzen. Die Kurse fielen aber zu schnell, als dass sie ihre Aktien wie geplant schrittweise liquidieren konnten. Das führte zu Panikverkäufen. Extreme Kurseinbrüche in kürzester Zeit waren die Folge. Die starken Verluste Ende 2018 könnten ähnliche Ursachen haben. Allgemein nimmt die Risikoaversion der Anleger bei sinkenden Kursen typischerweise zu. Schwankungen der Aktienpreise werden dadurch verstärkt.
Wovon hängen die künftigen Unternehmensgewinne ab? Das grösste Risiko für den Geschäftsgang ist eine Rezession. Starke Korrekturen der Aktienmärkte widerspiegeln oft die Erwartung eines Konjunkturabschwungs. Dennoch sind Börsenkurse kein zuverlässiger Indikator für den Konjunkturverlauf. „Der Aktienmarkt sagte 9 der letzten 5 Rezessionen voraus“, hat ein berühmter Ökonom einmal gewitzelt. Die starke Erholung der Märkte seit Jahresbeginn scheint auch den jüngsten Einbruch als Fehlalarm zu entlarven.
Der Grund für solche „Irrtümer“ der Aktienmärkte ist, dass Konjunkturprognosen sehr unzuverlässig sind. Könnten wir einen Wirtschaftsabschwung in den nächsten Quartalen verlässlich abschätzen, würden die Unternehmen im Hinblick auf die schlechte Prognose ihre Investitionen schon heute zurückfahren. Viele Konsumenten würden den Gürtel unverzüglich enger schnallen. Der Abschwung käme nicht in Quartalen, sondern praktisch zeitgleich mit der Prognose. Im Unterschied zu Vorhersagen der Aktienpreise haben Konjunkturprognosen aber dennoch eine gewisse Aussagkraft.
Wir wissen also nicht sicher, in welche Richtung sich die Konjunktur entwickelt. Die Unsicherheit, und damit die Wahrscheinlichkeit starker Ausschläge hat in jüngerer Zeit jedoch wieder zugenommen. Der eingangs erwähnte Brexit ist nur eine Ursache unter vielen. Der schwelende Handelskonflikt mit drohendem Protektionismus ist ein offensichtliches Risiko. Aufgrund der hohen Verschuldung der meisten Staaten könnte eine schwere Rezession gar zu einer weltweiten Staatsschuldenkrise führen. Das würde die Folgen der Finanzkrise von 2008 bei weitem in den Schatten stellen. Unsicherheit verbreiten auch grosse, konkursgefährdete europäische Banken, Italiens Regierung oder Frankreichs gelbe Vesten.
Diese und weitere Faktoren trugen vermutlich zu den Kurverlusten von 2018 bei. Was aber meist vergessen wird: Unsicherheit ist nicht nur ein Risiko. Unsicherheit birgt immer auch Potential für positive Überraschungen. Die Dinge können sich besser entwickeln als befürchtet. Positive Trends bleiben unserem Bewusstsein oft lange verborgen. Die Bedeutung einer Erfindung oder einer Erkenntnis aus der Grundlagenforschung, die Auswirkungen einer Steuer- oder Arbeitsmarktreform, die Folgen einer langsamen Annäherung verfeindeter Staaten werden häufig erst Jahre oder Jahrzehnte später in vollem Ausmass ersichtlich. Wer hätte vor 10 Jahren vorhergesagt, dass die Verschuldung Deutschlands von über 80% auf unter 60% des Sozialproduktes sinken würde? Wer hätte vor 50 Jahren erwartet, dass hunderte Millionen Chinesen aus bitterster Armut zu relativem Wohlstand gelangen würden? Wer hat vor wenigen Jahrzehnten die unglaubliche Internet-Revolution erahnt?
Unsicherheit bewegt die Aktienmärkte in beide Richtungen. Risiken und Chancen halten sich kurzfristig immer die Waage. Das beste, was wir tun können, ist ein optimales Management der Risiken. Das Instrument der Wahl heisst Diversifikation. Längerfristig ist jedoch die Risikoprämie entscheidend. Diese setzt den Trend der Aktienpreise. Im langfristigen Durchschnitt betrug diese Prämie rund 4% bis 5%. Jährlich, zusätzlich zu den Zinsen für eine sichere Anlage auf dem Konto oder in Staatsanleihen.