Inflation ist nicht einfach nur ein Anstieg der Preise. Sie ist ein komplexer Prozess mit vielen hässlichen Gesichtern.
Nach Jahrzehnten relativer Preisstabilität hat man in unseren Breitengraden vergessen, was Inflation wirklich ist, was sie für das Wirtschaften, das Leben, die Gesellschaft bedeutet.
Missverständliche Definition
Klar, wir kennen abstrakte Definitionen wie jene der Schweizerischen Nationalbank: „Inflation ist ein über längere Zeit anhaltender Anstieg des allgemeinen Preisniveaus, was einem Verlust der Kaufkraft des Geldes entspricht“. Das ist nicht falsch. Aber diese Beschreibung trifft nicht den Charakter der Inflation, sie vermittelt ein falsches Bild. „Ein anhaltender Anstieg des allgemeinen Preisniveaus“ erweckt den Eindruck mehr oder weniger stetig und parallel steigender Preise.
Diese Vorstellung entspricht nicht der Realität. Erstens sind Zeiten hoher Inflation meist durch schubartige Entwicklungen und starke Schwankungen der Teuerungsraten geprägt. Zweitens ist es geradezu ein Zentralmerkmal der Inflation, dass sich die Preise zeitlich und örtlich ausgesprochen uneinheitlich, oft erratisch bewegen. Geldentwertung erfolgt nicht durch eine gleichförmige Zunahme aller Preise. Unzählige Anbieter reagieren auf ganz unterschiedliche Änderungen der Gegebenheiten und Erwartungen in ihrem spezifischen Markt. Sie ändern ihre Preise in unterschiedlicher Kadenz und Geschwindigkeit. Manche Unternehmen können steigende Kosten problemlos an ihre Kunden weitergeben. Andere würden ihre Kunden verlieren.
Ein Erfahrungsbericht
Ein anschauliches Bild hoher Inflation vermittelt Stefan Zweig. Aus seiner packenden Beschreibung der Geldentwertung von 1918 bis 1922 in Österreich seien einige Sätze herausgepickt:
„Bald wusste niemand mehr, was etwas kostete. Die Preise sprangen willkürlich; eine Schachtel Zündhölzer kostete in einem Geschäft, das rechtzeitig den Preis aufgeschlagen hatte, das Zwanzigfache wie in dem anderen (…) Jeder lief und kaufte, was verkäuflich war, gleichgültig ob er es benötigte oder nicht. Selbst ein Goldfisch oder ein altes Teleskop war immerhin ‚Substanz‘, und jeder wollte Substanz statt Papier (…) Am groteskesten entwickelte sich das Missverhältnis bei den Mieten, wo die Regierung zum Schutz der Mieter und zum Schaden der Hausbesitzer jede Steigerung untersagte. Bald kostete in Österreich eine mittelgrosse Wohnung für das ganze Jahr ihren Mieter weniger als ein einziges Mittagessen (…) Wer vierzig Jahre gespart und überdies sein Geld patriotisch in Kriegsanleihen angelegt hatte, wurde zum Bettler. Wer Schulden besass, war ihrer ledig. Wer korrekt sich an die Lebensmittelverteilung hielt, verhungerte; nur wer sie frech überschritt, ass sich satt. Wer zu bestechen wusste, kam vorwärts. (…)
Es gab kein Mass, keinen Wert innerhalb dieses Zerfliessens und Verdampfens des Geldes; es gab keine Tugend als die einzige: geschickt, geschmeidig, bedenkenlos zu sein und dem jagenden Ross auf den Rücken zu springen, statt sich von ihm zertrampeln zu lassen (…) Welch eine wilde, anarchische Zeit, jene Jahre, da mit dem schwindenden Wert des Geldes alle andern Werte ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Handleserei, (…). Jede Form des Rauschgifts fand reissenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik.“
Von einer Hyperinflation, wie sie Zweig erlebte, sind wir heute weit entfernt. Doch seine Erzählung schärft den Blick. Sie offenbart den Charakter jeder substantiellen Inflation. Viele der Entwicklungen, die er damals in Extremform erlebte, sind in Ansätzen auch heute erkennbar.
Selbst die moderate Teuerung in der Schweiz erschwert bereits merklich das Leben. In einem Geschäft ist das Schampoo von einem Tag auf den andern 20% teurer, beim Konkurrenten gleich nebenan aber nicht. Haben Sie bei Alltagskäufen noch die gleiche Übersicht wie vor zwei Jahren, welches Produkt wo am günstigsten ist? Die SBB will ihre Preise trotz steigender Kosten auch 2023 nicht erhöhen. Der Verlust wird vom Steuerzahler beglichen. Wer auf das Auto angewiesen ist, kann nicht auf eine Entlastung durch die Allgemeinheit zählen. In manchen Branchen hinken die Löhne der Teuerung bereits beträchtlich hinterher. Für Leute am unteren Ende des Lohnspektrums wird das rasch zum ernsthaften Problem. Schon moderate Geldentwertung führt zu Umverteilung an allen Ecken und Enden.
Steigt die gemessene Inflation wie in den meisten europäischen Staaten gegen 10% und darüber, wird es sehr ungemütlich. Die Kaufkraft der Renten und Bankguthaben schmilzt wie Schnee in der Sonne. Der Sparsame verliert, nur wer sich stark verschuldet hat, jubelt. Lohnforderungen werden vermehrt mit Kampfmassnahmen durchgesetzt. Die Planung grösserer Anschaffungen wird schwierig, denn wer weiss schon, wie sich das persönliche Einkommen, der Preis einer Ausbildung, die Baukosten für ein Haus oder der Zins für eine Hypothek bis in drei Jahren entwickeln? Für viele Unternehmen wird die Erstellung verbindlicher Offerten zum unkalkulierbaren Risiko. In Europa und den USA führt die aktuelle Inflation zu erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden, massiver Umverteilung auf vielen Wegen und zunehmend zur Existenzbedrohung ganzer Branchen und gesellschaftlicher Gruppen. Soziale Spannungen nehmen spürbar zu.
Begründete Hoffnung
Inflation ist nicht einfach nur ein Anstieg der Preise. Sie ist ein komplexer Prozess mit vielen hässlichen Gesichtern. Sie untergräbt das Fundament einer funktionierenden Marktwirtschaft. Sie erodiert schleichend die Moral und das Recht und schwächt die Gesellschaft als Ganzes. Stefan Zweigs literarische Erzählung dokumentiert treffend die typischen Charakterzüge jeder substantiellen Geldentwertung. Katastrophale Schäden entstehen nicht erst bei einer Hyperinflation.
Doch es besteht begründete Hoffnung. Trotz des starken Anstiegs der Inflationsraten seit 2021 blieben die Erwartungen für die mittel- und längerfristige Entwicklung bis heute relativ tief und stabil. Das ist ein gutes Omen. Es bedeutet, dass die Finanzmärkte die aktuellen Beteuerungen der Zentralbanken, die Inflation entschlossen zu bekämpfen und rasch wieder auf tiefere Niveaus zu führen, als glaubwürdig erachten. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn der politische Druck auf die Zentralbanken, ihre Geldpolitik wieder zu lockern, wird bei negativer Konjunkturentwicklung rasch steigen.