Börsen verarbeiten neue Informationen schneller und präziser als Analysten. Wettbüros liefern verlässlichere Wahlprognosen als wissenschaftliche Modelle. Warum?
9. November, 12.45 Uhr: Aus heiterem Himmel machen die Aktienmärkte einen Sprung. Dann steigen sie rasch weiter. 15 Minuten später notiert der amerikanische Leitindex S&P500 gut 3% höher, der EuroStoxx50 gewinnt 4%. Eine höchst ungewöhnliche Bewegung. Was steckt dahinter?
Eine neue Information
Exakt um 12.45 (MEZ) publiziert der Pharmagigant Pfizer eine Pressemitteilung: „Vaccine candidate was found to be more than 90% effective in preventing COVID-19 in participants without evidence of prior SARS-CoV-2 infection in the first interim efficacy Analysis“, verkündet der erste Satz.
Das Communiqué kommt unerwartet. Dennoch reagieren die Aktienmärkte schneller, als Normalsterbliche lesen können. Einige Händler erfassen die Bedeutung der Nachricht schon mit den ersten Worten. Hektisch hacken sie erste Kaufaufträge in das Handelssystem. Anders ist der sekundenschnelle Kurssprung nicht zu erklären.
Während der ersten Minuten steigen fast alle Aktien. Dann folgt eine starke Differenzierung nach Branchen und Firmen. Delivery Hero, der deutsche Spezialist für online food ordering, notiert um 12.55 Uhr entgegen dem Trend bereits 4% tiefer. Klar, dieses Geschäftsmodell profitiert von der Pandemie, nicht von der Impfung. Auch Roche und etwas verzögert die Deutsche Post verlieren an Boden. Versicherungen, Banken, Swatch und viele andere legen weiter zu. Nach rund einer Stunde haben sich die meisten Kurse auf einem neuen Niveau mehr oder weniger stablilisiert.
Ein Wunder
Ein Aktienkurs ist nichts anderes als eine Prognose der künftigen Ertragskraft einer Firma. Die Börsen haben diese Prognosen aufgrund der erfreulichen Aussicht auf einen unerwartet wirksamen und unerwartet rasch verfügbaren Schutz vor Corona revidiert. Sie haben die Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen, auf Entscheide der Politik, auf den Gang der Wirtschaft, auf die Profitabilität einzelner Unternehmen abgeschätzt und in die Kurse „eingepriced“.
All das geschah Stunden bevor die flinksten Experten und die besten Analysten ihre ersten, vagen Einschätzungen abgaben. Die Lichtgeschwindigkeit, mit der Finanzmärkte neue Informationen zur Kenntnis nehmen, analysieren und in ihren komplexen Wirkungen abschätzen, muss man als ein Wunder bezeichnen.
Geschwindigkeit ist kein Garant für Qualität. Doch dafür, dass die Finanzmärkte im Allgemeinen auch bessere Prognosen als einzelne Experten machen, gibt es viel Evidenz. Ein Beispiel sind die Wahlen des amerikanischen Präsidenten. Die meisten mit Umfragen und wissenschaftlichen Modellen arbeitenden Experten sagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Wahl Bidens voraus. Im auffallenden Gegensatz dazu implizierten die Wettquoten eine beachtliche Wahrscheinlichkeit von fast 40% für Trump. Das knappe Wahlergebnis gab den Wettmärkten, nicht den Experten recht.
Finanzmärtke im doppelten Vorteil
Dass Finanzmärkte bessere Prognosen liefern, hat zwei Gründe: Erstens kondensieren sich in Aktienpreisen oder Wettquoten tausende von Kaufs- und Verkaufsentscheiden, die ihrerseits das Resultat individueller Prognosen sind. Wer eine Aktie erwirbt, tut dies fast immer, weil er eine höhere Ertragskraft der Firma, also einen steigenden Kurs erwartet. Und je sicherer sich ein Marktteilnehmer seiner Vorhersage ist, desto mehr Geld setzt er ein. An den Börsen haben gut informierte Akteure deshalb grösseres Gewicht, zumindest in der Tendenz.
Zweitens unterliegen Marktteilnehmer mit Bezug auf ihre Prognosen keinem Zielkonflikt: Wer eine Aktie kauft oder eine Wette abschliesst, verfolgt normalerweise nur ein Ziel, nämlich Geld zu verdienen. Aus Eigeninteresse macht er deshalb die bestmögliche Prognose. Analysten und Prognoseinstitute unterliegen dagegen oft Interessenskonflikten. So kann etwa der Auftraggeber politische Ziele wie die Mobilisierung von Wählern verfolgen und bestimmte Prognosen favorisieren. Medien steigern mit spektakulären Vorhersagen die Auflage. Aktienanalysten sehen Unternehmen oft durch eine rosarote Brille, denn sie wollen ihre guten Beziehungen zum Management nicht strapazieren. Oder sie vermeiden allzu eigenständige Analysen, weil sie sich damit exponieren. Nicht zufällig sind die Prognosen der Banken oft gleichgerichtet falsch.
Finanzmärkte prognostizieren nicht immer richtig, aber meist besser. Denn sie verwerten systematisch das Wissen von vielen, nicht nur von einzelnen Experten. Und sie sind an nichts als an den bestmöglichen Prognosen interessiert. Wer nach „über- und unterbewerteten“ Aktien sucht, tritt gegen diese Wundermaschinen der Informationsverarbeitung an. Nur ganz wenige haben eine Chance. Diese nutzen sie meist für sich selbst, nicht für Sie als Anleger.