Zinsprognosen haben mit der Realität noch weniger als Fake News zu tun. Als Entscheidungsgrundlage für die Aufnahme einer Hypothek sind sie nicht nur untauglich, sondern gefährlich.
Dass die Renditen zehnjähriger amerikanischer Staatsanleihen für längere Zeit unter 6% verharren, sei ausgeschlossen. Darin waren sich die Experten der UBS im Herbst 1997 einig. Ich erinnere mich gut, es war der erste Anlageausschuss, an dem ich teilnehmen durfte. Doch die frechen Zinsen ignorierten die Expertenmeinung und sanken munter weiter.
Verzinsung 10-jähriger US Staatsanleihen: Eine von Experten für unmöglich gehaltene Entwicklung
Es blieb nicht bei dieser einen Fehlprognose. Auch während der folgenden zwanzig Jahre erwartete das Gros der Auguren steigende Zinsen. Völlig konträr zur Realität. Die nächste Grafik legt das für die Zeit seit 2003 erbarmungslos offen. Die gestrichelten Linien repräsentieren die fast durchwegs falschen Prognosen (jeweils für das nächste Jahr), die durchgehende Linie zeigt die effektive Entwicklung.
Prognose und Wirklichkeit: USD Zinsen
Wie unerwartet sich Zinsen entwickeln können, zeigen auch die enormen Sprünge in England während der 70er-Jahre. Weder der extreme Anstieg ab 1972 um mehr als 7%, noch der massive Zinsrückgang um 1977 wurden vorhergesehen. Hätten die Marktteilnehmer diese Tendenzen antizipiert, wären die Zinswenden bei den langfristigen Zinsen früher als bei den 3-Monatssätzen eingetreten.
Die zeitlich synchrone Entwicklung der Kurz- und Langfristzinsen beweist: Die grossen Wenden kamen unerwartet
Die Liste grober Fehleinschätzungen liesse sich beliebig verlängern. Zinsen lassen sich nicht prognostizieren. Warum werden dann trotzdem laufend Zinsprognosen veröffentlicht? Eine Erklärung liefert die Seer-Sucker-Theorie: „No matter how much evidence exists that seers do not exist, suckers will pay for the existence of seers.“
Die meisten Auguren gehen heute davon aus, dass die Zinsen insbesondere in Europa noch längere Zeit auf tiefem Niveau verharren. Im Vertrauen auf diese Prognose nehmen zahlreiche Häuslebauer hohe und oft kurzfristige Hypotheken auf. Und viele Banken gewähren diese Kredite scheinbar bedenkenlos in grosser Zahl. Sollten die Zinsen unerwartet steigen, kann das ins Auge gehen. Und das ist nicht so unwahrscheinlich, wie viele glauben.
Die Erwartung anhaltend tiefer Zinsen wird oft mit der Interessenslage begründet. So wird angeführt, die europäische Zentralbank wolle angesichts der nach wie vor kritischen Verschuldungssituation vieler Euro-Staaten keine stark steigenden Zinsen. Diese Argumentation verkennt, dass die Entwicklung der Zinsen nicht im alleinigen Ermessen der Notenbanken liegt. Zinsen sind Preise. Sie werden durch Angebot und Nachfrage nach Krediten bestimmt. Zwar kann eine Zentralbank das Angebot an Krediten beeinflussen, etwa indem sie Staats- oder Unternehmensobligationen kauft und damit Gläubiger wird. Doch ihrem Einfluss sind Grenzen gesetzt. Intervenieren die Währungshüter zu stark, kann das Vertrauen in die Preisstabilität unversehens schwinden. Private Gläubiger verlangen für das Inflationsrisiko dann höhere Renditen. Der Zentralbank entgleitet die Kontrolle über die Zinsen. Notenbanken können die Zinsen nicht beliebig manipulieren, ohne die Stabilität der Währung aufs Spiel zu setzen.
Welch ungeahnte Dynamik Zinsen entwickeln können, hat sich erst vor Jahresfrist wieder gezeigt. Das Vertrauen der Gläubiger in Italiens Kreditwürdigkeit implodierte aufgrund der ausgabefreudigen Haushaltspläne der Regierung innert Tagen. Die Verzinsung italienscher Staatsanleihen schnellte ohne Vorwarnung um mehrere Prozente in die Höhe.
Wer einen Kredit aufnimmt, sollte deshalb auch starke Zinserhöhungen verkraften können. Ganz besonders, wenn er eine kurze Laufzeit wählt. Und Banken, die hohe Hypotheken gewähren, müssen mit erheblichen Ausfallraten rechnen, sollten die Zinsen ihren Prognosen abermals nicht gehorchen. Ich fürchte, dass sich derzeit Viele nicht an diese Grundregeln kaufmännischer Vorsicht halten. Zu gross ist die Verlockung tiefer Zinsen sich zu verschulden, zu stark der Druck auf Banken, die erodierenden Zinserträge durch erhöhte Risiken zu kompensieren.