Wer eine Aktie kauft, sollte sich fragen: Was ist das Motiv des Verkäufers?
Wenn Sie eine Schokolade oder einen Staubsauger kaufen, können Sie recht gut abschätzen, welchen Nutzen Sie daraus ziehen. Ob dieser Nutzen den Kaufpreis rechtfertigt, ist relativ einfach zu entscheiden. Wer Ihnen den Staubsauger mit welchen Beweggründen verkauft, braucht Sie nicht weiter zu interessieren.
Wenn Sie eine Aktie kaufen, ist es anders. Welchen Nutzen, welche Dividenden und Kursgewinne Ihnen das Wertpapier in Zukunft beschert, ist im Zeitpunkt des Kaufs sehr ungewiss. Dass sich der Wert einer Tesla Aktie mehr als verhundertfachen würde, hat vor zehn Jahren niemand geahnt. Wer sein Vermögen in die Crédit Suisse investierte, hat kaum mit dem dramatischen Kurszerfall gerechnet.
Wenn man den Nutzen im Voraus nicht kennt: Aufgrund welcher Kriterien soll man sich dann für oder gegen eine bestimmte Aktie entscheiden? Klar, man kann versuchen, die Entwicklung des Unternehmens und seiner Gewinne zu prognostizieren. Doch bedenken Sie: Wer eine Aktie kaufen will, braucht einen Verkäufer. Sie sollten sich fragen: Warum stösst der Verkäufer einen vielversprechenden Titel ab? Nicht viele stellen sich diese naheliegende Frage.
Es gibt zahlreiche Gründe, eine Aktie zu veräussern. Vielleicht braucht jemand Geld für unvorhergesehene Ausgaben. Oder er bekommt es mit der Angst zu tun, weil er höhere Verluste erlitten hat, als er sich leisten kann. Eine Aktie kann für jemanden aus Steuergründen an Attraktivität verlieren. Diversifikationsüberlegungen können für eine Reduktion des Engagements sprechen. Ein Investor kann sich aus ethischen Gründen von einem Unternehmen trennen.
All das sind Motive, die mit den Prognosen des Käufers nicht in Konflikt stehen müssen. Dieser hat vielleicht ein grösseres Liquiditätspolster, kann höhere Risiken tragen, ist in einer anderen Steuersituation oder hat in ethischen Fragen eine andere Optik. Die Transaktion kann sich dann für beide, Käufer und Verkäufer lohnen.
Mindestens so wahrscheinlich ist aber, dass der Verkäufer die Gewinnentwicklung des Unternehmens pessimistischer einschätzt. Sind sie sicher, dass die Gegenpartei nicht besser informiert ist als Sie? Die meisten Berater und Analysten gehen über diese Frage selbstsicher hinweg. Sie halten ihre Einschätzung, ihr Wissen, ihre Modelle für überlegen. So wie die meisten Automobilisten ihre Fahrkünste für überdurchschnittlich halten. Der Markt sei „irrational“, oder wesentliche Informationen seien im Preis „noch nicht eskomptiert“, urteilen sie häufig. Auf Deutsch bedeutet das: Die Gegenpartei sei dümmer oder schlechter informiert als sie. Sie vergessen, dass Akteure mit privilegierten Informationen einen grösseren Anreiz haben, zu handeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Gegenpartei gut informiert ist, ist grösser, als sie denken.
Die Selbstsicherheit der Analysten ist in vielen Fällen verständlich. Denn ihre Prognosen können sie oft gut und überzeugend begründen. Nur: Intelligente Argumentarien sind nicht gleichbedeutend mit treffenden Prognose. Allzu leicht übersieht man in einer komplexen Welt entscheidende Aspekte. Auch können Prognosemodelle auf falschen Annahmen beruhen. Etwa auf Bilanzzahlen, welche ihrer Natur nach die Vergangenheit reflektieren und womöglich schon im Zeitpunkt der Analyse ein arg verzerrtes Bild des Unternehmens vermitteln. Gerade in bewegten Zeiten.
Wie professionell und durchdacht Fondsmanager und Analysten auch argumentieren: Ihre Prognosen sind im Allgemeinen nicht systematisch besser als jene der „irrationalen“ oder vermeintlich schlechter informierten Gegenseite. Das wissen wir nicht nur aus langjähriger persönlicher Erfahrung. Hunderte statistischer Untersuchungen zeigen diesbezüglich ein verblüffend einhelliges Bild.
Je länger der Zeithorizont, desto unsicherer sind Prognosen. Unvorhersehbare Faktoren wie Änderungen in der Unternehmensführung oder -strategie, neue Erfindungen und Technologien, gesellschaftliche Umwälzungen und andere Strukturbrüche erhalten grösseres Gewicht. Langfristig orientierte Anleger sind deshalb weniger abhängig von der Qualität von Prognosen als aktive „Trader“.
Wer um die engen Grenzen seines Wissens weiss und nach den Motiven seiner Handelspartner fragt, wer demütig nach Schwachstellen in seinen Modellen und Argumenten sucht, wer seine Anlageentscheide statt auf Gewinn- und Kursprognosen vermehrt auf Diversifikations-, Risiko- oder Steuerüberlegungen basiert, trifft weniger Fehlentscheide. Und spart über die Zeit beträchtliche Kosten.