Wer von irrationalen Märkten spricht, ist oft naiv, überheblich oder verfolgt eigene Interessen.
Es gibt keinen Zweifel mehr: Finanzmärkte sind irrational. Das sieht angesichts unaufhörlich steigender Aktienkurse seit Trumps Ernennung jedes Kind.
Finanzmärkte sind irrational. Das war mir schon sonnenklar, als im Frühjahr 2001 Obligationen der Swissair, einer soliden Firma mit vertrauenserweckendem Kreditrating A3 von Moody’s, weit unter ihrem Nominalwert verscherbelt wurden. Im Oktober war die Swissair bankrott.
Finanzmärkte sind irrational. Das war für viele Analysten offenkundig, als im Herbst 2007 Aktien der UBS, einer der weltbesten Banken, zu Schleuderpreisen angeboten wurden. Ein Jahr später wurde die UBS vom Staat gerettet.
Finanzmärkte sind irrational. Das erkannten zahlreiche Experten, als 2012 Obligationen der schweizerischen Eidgenossenschaft zu „unmöglichen“ negativen Renditen gehandelt wurden. Die Experten legen ihr Geld heute rational zu noch tieferen Renditen an.
Finanzmärkte sind irrational. Das erklärten ungezählte Ökonomen, als in England die Aktienkurse nach dem Entscheid zum Brexit, dem sicheren Weg in den wirtschaftlichen Untergang, stiegen. Warten wir ab, wie es den Briten ergeht.
Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Irrational verhalten sich die Märkte immer dann, wenn sie sich unerklärlicherweise nicht an unsere eigenen Erwartungen halten. Das scheint uns ganz logisch. Unsere Logik basiert auf drei Irrtümern.
Da wäre zunächst die unausgesprochene Annahme, dass unsere eigene Einschätzung die fundierteste, weitsichtigste und einzig vernünftige ist. Die Annahme ist so menschlich wie falsch. Denn natürlich gab es Sachverständige, die sich vertiefter als Moody’s und ich mit der Situation der Swissair befassten; natürlich gab es Insider, welche die Bilanzkennzahlen der UBS mit guten Gründen nicht wie viele Analysten zum Nennwert nahmen; natürlich gab es Koryphäen, welche die Möglichkeit negativer Zinsen schon länger erkannten; und womöglich gibt es weitsichtige Personen, welche die wirtschaftlichen Aussichten Britanniens als Partner statt als Mitglied der EU aus durchaus vernünftigen Gründen optimistisch bewerten.
Zweitens ist der Aberglaube weit verbreitet, irrationales Verhalten einzelner oder auch sehr vieler Akteure resultiere automatisch in irrational verzerrten Preisen. Preise folgen keinem Wahlproporz. Weicht ein Preis vom „richtigen“ Wert eines Assets objektiv erkennbar ab, wird dies durch rationale Marktteilnehmer ausgenutzt. Bereits wenige, gut informierte Akteure genügen, um irrationales Verhalten vieler auszugleichen.
Drittens erliegen wir immer wieder dem Irrtum, dass Preise auf neue Informationen reagieren. Publiziert die Crédit Suisse schlechte Resultate, glauben wir, der Aktienkurs müsse fallen. Das ist ein Missverständnis. Ist das Ergebnis zwar schlecht, aber doch weniger schlecht als von den bestinformierten Marktteilnehmern erwartet, wird der Preis vermutlich steigen. Nicht unsere eigenen, und auch nicht die durchschnittlichen Erwartungen sind ausschlaggebend. In der Tendenz werden Preise durch die bestinformierten Akteure bestimmt. Denn diese sind aufgrund ihres Informationsvorsprungs bereit, mehr auf ihre Prognose zu setzen.
Wer rational denkt, verwendet das Wort „irrational“ zurückhaltend. Er spricht auch kaum von Unter- und Überbewertung. Das sind Euphemismen für ein und dasselbe. Wer rational denkt, bleibt demütig und stellt sich Fragen: Warum weicht der Preis von meiner Erwartung ab? Was sehen andere Marktteilnehmer, was mir entgeht? Welche Überlegungsfehler mache ich?
Wer rational denkt, verwendet das Wort „irrational“ vor allem aus einem Motiv: Er will Preise in eine bestimmte Richtung bewegen, weil es seinen Interessen entspricht. Die Schweizerische Nationalbank erklärt nicht aus Überheblichkeit, der Schweizer Franken sei überbewertet. Sie sagt es, weil sie den Franken schwächen will. Gewiefte Investoren bezeichnen nur Aktien, die sie selbst schon besitzen, als irrational tief bewertet.
Wer von irrationalen Märkten, von Über- und Unterbewertung spricht, ist oft naiv, überheblich oder verfolgt eigene Interessen. Nur ganz wenige besitzen die nötigen Informationen, um „falsche“ Preise mit erfolgversprechender Wahrscheinlichkeit zu identifizieren. Sie nutzen ihr Wissen gern für sich selbst und recht selten für Sie. Seien Sie auf der Hut.