Manche Banken brüsten sich mit der Verwendung komplexer Modelle. Das verleiht den Anschein von Wissenschaftlichkeit und macht Eindruck. Doch halten die raffinierten Methoden, was sie versprechen?
Die Verwendung mathematischer Methoden ist in der Finanzindustrie weit verbreitet. Mit Hilfe komplexer Modelle wird der Wert von Unternehmen berechnet, Inflationsraten und Zinssätze werden mit Nachkommastellen prognostiziert. Man optimiert Wertschriftenportfolios der Kunden hinsichtlich Renditeerwartungen und Verlustpotential mit Hilfe statistischer Verfahren. Bankeigene Risiken werden mit Gleichungssystemen exakt kalkuliert. Man erweckt den Anschein von Präzision und Wissenschaftlichkeit. Das beeindruckt viele Kunden genauso wie Regulatoren. Doch halten die raffinierten Methoden, was sie versprechen?
Nichts gegen Modelle. Ein Modell ist ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit. Die als wesentlich erachteten Aspekte werden hervorgehoben, Nebensächliches lässt man weg. Was wichtig und unwichtig ist, welche vereinfachenden Annahmen getroffen werden, hängt dabei vom Verwendungszweck und von der Einschätzung des Modellierers ab. Adäquat konstruierte Modelle helfen uns, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu übersehen, vielschichtige Sachverhalte zu analysieren, gezielter zu planen, treffender zu prognostizieren, sich zu orientieren.
Doch werden Modelle unzweckmässig konstruiert, können sie leicht in die Irre führen. Sie verleiten dann zu falschen Schlüssen, weisen in die falsche Richtung, begünstigen gefährliche Illusionen oder rechtfertigen fahrlässiges Verhalten.
Betrachten wir das anschauliche Beispiel einer Landkarte, also das stark vereinfachten Abbild der Geographie eines Gebiets. Je nach Verwendungszweck wird ein solches Modell sehr unterschiedlich aussehen. Während eine Autokarte die Landschaft gezielt auf Strassen, Ortschaften, Pässe und wichtige Orientierungspunkte reduziert, sind für einen Orientierungsläufer das mittels Höhenkurven dargestellte Relief, die Bodenbeschaffenheit und Hindernisse wie Zäune wesentliche Aspekte. Für den Geologen zählt die Art des Gesteins, ein Pilot ist an der Strukturierung des Luftraums interessiert. Die Gleiche Wirklichkeit, der gleiche Raum, erscheint je nach Verwendungszweck des Modells ganz anders.
Zwei Modelle der gleichen Wirklichkeit: Eine Strassen- und eine geologische Karte.
Werden im Hinblick auf die Verwendung unzweckmässige Annahmen getroffen, ist die Karte unbrauchbar. Ein Wanderer, der Touren mit der geologischen Karte plant, wird nicht weit kommen, vielleicht gar abstürzen. Ein Velofahrer, der mit einer Autokarte von Altdorf nach Airolo will, wird ab Erstfeld unangenehm von einer Steigung überrascht, die motorisierte Fahrer wenig interessiert. Ist der Pass geschlossen, ist vor dem Gotthardtunnel unerwartet Endstation, denn das für den Radler entscheidende Fahrverbot ist auf einer Karte für Automobilisten nicht erwähnt.
Inadäquat konstruierte Modelle leiten nicht nur Velofahrer, sondern auch Finanzexperten in die Irre. Im Unterschied zu Karten ist im Finanzbereich allerdings oft schwieriger zu erkennen, welche Vereinfachungen der Wirklichkeit mit Blick auf einen bestimmten Zweck sinnvoll und welche Annahmen unzulässig, irreführend sind.
Unzweckmässige Modelle sind in der Finanzindustrie wie vielerorts ein weit verbreitetes Phänomen. Gerade Experten verlieben sich gerne in ihre oft eleganten und in sich schlüssigen Konstrukte, lassen sich durch scheinbar präzise Prognosen verführen. Allzu leicht vergessen sie, dass ihren Modellen vereinfachende Annahmen zugrunde liegen. Nicht selten verwechseln sie ihr Konstrukt gar mit der Wirklichkeit. Eine Verwechslung, die früher oder später zu bösen Überraschungen führen muss.
Etwa als die UBS 2008 erfahren musste, dass eine aus dem Bewusstsein der Manager verdrängte Vereinfachung in den Risikomodellen, nämlich die Gleichsetzung von AAA-Ratings mit faktischer Konkurssicherheit, der Realität im entscheidenden Moment nicht standhielt. Oder als letztes Jahr einige wichtige Notenbanken von Inflationsraten überrascht wurden, die sie aufgrund ihrer Prognosemodelle eigentlich für unmöglich hielten. Und dieses Jahr fielen viele Experten aus allen Wolken, als sich herausstellte, dass ein Modell der Crédit Suisse, nämlich ihre Bilanz, den tatsächlichen Wert der Firma nicht einmal mehr entfernt reflektierte. In all diesen Fällen hatte man übersehen oder vergessen, dass vereinfachende Annahmen, die unter gewissen Umständen sinnvoll und zweckdienlich erscheinen, unter veränderten Bedingungen irreführend sind.
Unter Verwendung nicht zweckdienlicher Modelle werden teilweise auch Kundenportfolios „optimiert“. Und wie so häufig fliegt der Fehler erst unter stark veränderten Bedingungen, typischerweise während einer Krise auf. Dann sind betroffene Anleger urplötzlich mit Verlusten in einer Grössenordnung konfrontiert, die in der Modellwelt ihrer Berater auch im „worst case“ schlicht unmöglich sind. Das mussten etwa 2008 aber auch letztes Jahr einige Bankkunden schmerzlich erfahren.
Was können Modelle in der Finanzindustrie leisten? Und was können sie nicht? Was gilt es bei Konstruktion und Verwendung der Modelle zu beachten? Welche Fallen und Missverständnisse lauern? Sind womöglich einfache Regeln, „gesunder Menschenverstand“ oder gar verpönte „Bauchentscheide“ komplexen Optimierungsverfahren manchmal überlegen? Wir werden diese Fragen in weiteren Beiträgen näher beleuchten.