Unsicherheit sei Gift, liest man allenthalben. Etwa für die Wirtschaft, die Börsen, den Forschungsstandort. Das ist Unsinn. Nicht vor Unsicherheit, sondern vor vermeintlicher Sicherheit müssen wir uns fürchten.
Die Unsicherheit bezüglich des Wechselkurses sei Gift für die Exportindustrie. Das erklärten 2015 nach der Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die Nationalbank zahleiche Verbände, Politiker und Manager. Die Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie sah ihre Wettbewerbsfähigkeit in akuter Gefahr. Viele Firmen müssten „die Segel streichen“, befürchtete die Economie Suisse. Rezession, Deflation und Arbeitslosigkeit erwartete die SP, genauso wie Gewerkschaften und viele andere.
Doch nichts dergleichen geschah. Die Rezession, die hohe Arbeitslosigkeit, die Konkurswelle blieben aus. Und nicht nur das. Bald danach florierte das Geschäft der meisten Exportunternehmen wie selten zuvor. Umsatz, Gewinne und Aktienkurse stiegen. Die Unsicherheit, der Druck des starken Frankens hatte sie zu grossen Anstrengungen, zu bedeutenden Innovationen, zu massiven Effizienzsteigerungen gezwungen. Das „Gift“ der Unsicherheit erwies sich rückblickend als ausgesprochen gesund für die Schweizer Industrie.
Auch die Unsicherheit nach der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum 1992 wurde weitherum als hoch toxisch qualifiziert. Die Prognosen waren damals düster bis schwarz. Vom „dimanche noir“ für die Wirtschaft, für die Arbeitsplätze und für die Jugend sprach etwa der damalige Wirtschaftsminister, Bundesrat Delamuraz. Doch keine der benachbarten Volkswirtschaften hat sich in den Jahrzehnten nach diesem Entscheid so gut entwickelt wie jene der Schweiz. Die Unsicherheit wirkte – gemessen an der Wirtschaftskraft – als erstaunlich gesundes Gift.
„Unsicherheit ist Gift für den Forschungsstandort“, verkündet seit Jahren auch die ETH mit Bezug auf das ungewisse Verhältnis der Schweiz zur EU. Für die Hochschule geht es dabei um Forschungsprojekte und -gelder, um den Zugriff auf erkleckliche Subventionen. Doch trotz der beklagten Vergiftung erfreut sich das Institut immer besserer Ratings. Möglicherweise ist die giftige Unsicherheit auch für die ETH nicht ganz so toxisch wie von ihr empfunden.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Wir reden hier nicht der künstlichen Schaffung von Unsicherheit das Wort. Natürlich ist Rechtssicherheit einer gesunden Entwicklung förderlicher als Willkürentscheide. Selbstverständlich erleichtert Währungs- und Geldwertstabilität die Planung und das erfolgreiche Wirtschaften.
Doch was die Gegner der Unsicherheit propagieren, ist oft nur der Anschein von mehr Sicherheit, die Substitution leicht erkennbarer Risiken durch schwerer wahrnehmbare, versteckte Gefahren. Denn so etwas wie Sicherheit gab es in der Wirtschaft, an der Börse, in der Politik noch nie. Sicher ist allein die ständige Unsicherheit. Unternehmen, die naiv an die Scheinsicherheit des Euro-Mindestkurses glaubten, und die eigenverantwortliche Absicherung der Währungsrisiken entsprechend vernachlässigten, erlagen einer Illusion. Sie verliessen sich auf eine Wechselkursgarantie, die die Nationalbank in letzter Konsequenz nicht leisten konnte. Wer im Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum und der damit verbundenen Annäherung an die EU eine Gewähr für mehr Rechtssicherheit, grössere Stabilität, sichere Absatzchancen für seine Produkte sah, unterlag einer Täuschung. Das zeigte die reale Entwicklung in der EU seither vielfach, u.a. mit der Destabilisierung durch die Schuldenkrise, mit zahlreichen Rechtsbeugungen, etwa betreffend vertraglich festgelegter Defizit- und Staatsschuldgrenzen, betreffend Mandat der EZB oder betreffend des „Bailout“-Verbot von Euro-Mitgliedstaaten, oder in jüngster Zeit mit der betrüblichen Geldentwertung. Die Sicherheit in vielen Köpfen entsprach auch hier nicht der realen Welt.
Klar ist: Wer sich zu sehr in Sicherheit wähnt, wird leicht unvorsichtig, bequem und träge. Wer sich seiner Sache allzu sicher ist, übersieht gerne Fehlentwicklungen und Risiken. Toxisch wirkt deshalb nicht die Unsicherheit, sondern die scheinbare Sicherheit. Wer sich hingegen der Unsicherheit, der oft unbekannten Risiken bewusst ist, bleibt wachsam, bildet grössere Sicherheitsreserven, strengt sich gezwungener Massen stärker an. Wer die künftige Entwicklung als unsicher empfindet, ist häufig im Vorteil, wenn das Unerwartete eintrifft.
Sich der ständigen Unsicherheit bewusst zu bleiben, ist auch für Anleger entscheidend. Es gibt viele Anlagen, die bei oberflächlicher Betrachtung sicher erscheinen, es aber nicht sind. So glaubten viele, ihr Geld bei der Crédit Suisse sei sicher. Wenn der Staat 2008 schon der UBS aus der Patsche geholfen hatte, würde er auch die CS vor dem Untergang bewahren. Für die Inhaber von Konten ging diese Rechnung heuer zwar auf. Doch wer aus der zwei Rettungsaktionen schliesst, es gäbe im Fall der Fälle auch einen dritte, kann sich gefährlich täuschen. Die nötigen Summen könnten die Möglichkeiten der Retter schlicht übersteigen. Auch Obligationen grosser Industrienationen bieten nur scheinbare Sicherheit. Das zeigten letztes Jahr schon die teils erheblichen, zinsbedingten Verluste. Und weil seit dem letzten Weltkrieg kein wichtiges, westliches Industrieland mehr zahlungsunfähig wurde, ist ein solches Ereignis für viele nicht denkbar. Doch Gewohnheit ist nicht das Gleiche wie Sicherheit. Die Geschichte zeigt klar, dass kein noch so grosser und wichtiger Staat Gewähr für die Rückzahlung exzessiver Schulden bieten kann.
Unsicherheit ist kein Gift, sondern natürlicher Bestandteil des Lebens. Für Anleger gibt es nur einen vernünftigen Umgang mit ihr: Echte Diversifikation. Alles andere ist ein Vabanquespiel, eine toxische Illusion.